Klassismus & ‚Asozialenverfolgung‘

Forschungen zeigen, dass die Bekämpfung von ‚Asozialität‘ sich in erster Linie gegen Menschen aus dem Proletariat sowie gegen sozial Unangepasste richtete. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, einer weiteren auf Kontrolle abzielenden Regelung, im Jänner 1940 konnte die Überwachung tendenziell auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt werden. So geriet vor allem das Sexualverhalten von Mädchen und Frauen, insbesondere jener aus ärmeren Bevölkerungsschichten, ins Visier der Behörden. Mit dem auf soziale Merkmale ausgedehnten Biologismus – ‚Asozialität‘ und ‚Kriminalität‘ galten als angeboren und vererbbar – rechtfertigte man Zwangsmaßnahmen wie die Einweisung in Erziehungs- und Arbeitsanstalten und/oder Konzentrationslager ebenso wie Zwangssterilisationen. Auch die Analyse des sozioökonomischen Hintergrunds der im Konzentrationslagerkomplex Ravensbrück inhaftierten Österreicherinnen mit Haftgrund ‚asozial‘ bestätigt den Befund, dass vorwiegend Angehörige der Unterschicht verfolgt wurden. Dasselbe gilt für jene Frauen, die in Arbeitsanstalten eingeliefert wurden; auch hier richtete sich die Verfolgung primär gegen Arme und Armutsgefährdete.

Nationalsozialistische ‚Asozialenpolitik‘ bekämpfte die Armen – nicht die Strukturen, die zu Armut führten und Ursache für die vielfach äußerst prekären Lebensverhältnisse waren. Diese Fixierung auf eine soziale Schicht ist Ausdruck von Klassismus. Er bedeutet eine Form der „individuellen, institutionellen und kulturellen Diskriminierung und Unterdrückung aufgrund des tatsächlichen, vermuteten oder zugeschriebenen sozial- oder bildungspolitischen Status“, wie Kemper und Weinbach (2009, 7) definieren. Er stellt – ähnlich wie Sexismus und Rassismus – eine tief in der Gesellschaft verankerte Form der Stereotypisierung und Kategorisierung dar und zeigt sich in anhaltenden Vorurteilen gegenüber gesellschaftlichen Randgruppen, die in vielfältige Diskriminierungen münden. Zwar werden heutzutage Arme nicht mehr verfolgt und weggesperrt oder ermordet, die Benachteiligung aufgrund von Klassismus lässt sich jedoch in vielen Lebensbereichen (Zugang zu Wohnen, Bildung, Arbeit etc.) feststellen. Auch bei der Beschäftigung mit statusbezogenen Phänomenen besteht die Gefahr, in die Klassismus-Falle zu tappen: etwa in der Art, wie über Betroffene berichtet wird, die oft beschämend und anklagend statt respektvoll ausfällt; oder indem ausschließlich auf ihren Opferstatus fokussiert wird, statt auch ihre Handlungsmächtigkeit wahrzunehmen; oder indem Armut als Ausdruck individuellen Versagens interpretiert wird, anstatt diese und die damit oft einhergehende soziale Ausgrenzung in ihren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu analysieren. Armut darstellen, nicht ausstellen – lautet also die Forderung der österreichischen Armutskonferenz.

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