Wer war ‚asozial‘?
Bis Kriegsende gab es keine allgemein gültige Definition von ‚Asozialität‘. Die nationalsozialistischen Behörden zogen für die Einordnung von Menschen als ‚asozial‘ die Richtlinie zur Umsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses aus dem Jahre 1940 heran.
„Als asozial (gemeinschaftsfremd) sind Personen anzusehen, die auf Grund einer anlagebedingten und daher nicht besserungsfähigen Geisteshaltung
1. fortgesetzt mit Strafgesetzen, der Pol. [Polizei] und den Behörden in Konflikt geraten, oder
2. arbeitsscheu sind und den Unterhalt für sich und ihre Kinder laufend öffentlichen oder privaten Wohlfahrtseinrichtungen, insbesondere auch der NSV. [Nationalsozialistische Volkswohlfahrt] und dem WHW. [Winterhilfswerk] aufzubürden suchen. Hierunter sind auch solche Familien zu rechnen, die ihre Kinder offensichtlich als Einnahmequelle betrachten und sich deswegen für berechtigt halten, einer geregelten Arbeit aus dem Wege zu gehen; oder
3. besonders unwirtschaftlich und hemmungslos sind und mangels eigenen Verantwortungsbewusstseins weder einen geordneten Haushalt zu führen noch Kinder zu brauchbaren Volksgenossen zu erziehen vermögen; oder
4. Trinker sind oder durch unsittlichen Lebenswandel auffallen (z.B. Dirnen, die durch ihr unsittliches Gewerbe ihren Lebensunterhalt teilweise oder ganz verdienen).“[1]
[1] Richtlinien für die Beurteilung der Erbgesundheit, Runderlass des Reichsministers des Inneren vom 18. Juli 1940, Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), 2.7.1.2., Rassenpolitisches Amt der NSDAP, A1–6, 2324.
Mit einer derart umfassenden Zuschreibung von möglichen Verfehlungen war der Verfolgung von missliebigen Personen Tür und Tor geöffnet. Bettler, Hausiererinnen, Arbeitslose, Nichtsesshafte, Alkoholkranke und Prostituierte, Vorbestrafte, von Sozialleistungen Abhängige, arme kinderreiche Familien – sie alle passten nicht ins Bild der nationalsozialistischen ‚arischen Herrenrasse‘. Sogar berufliche Traditionen wie das Hausieren galten bei den sogenannten Rassehygienikern als vererbbar. Daher gerieten nicht nur vermeintlich unangepasste Personen ins Visier der Behörden, sondern auch ganze Familien.
„Arbeitsscheu und moralisch verkommen“ – Zentrale Zuschreibungen an Frauen
Was die Stigmatisierung als ‚asozial‘ bei Frauen anbelangt, erfolgte diese bei ihnen – im Unterschied zu den Männern – in erster Linie anhand des ihnen unterstellten Sexualverhaltens. Also eines Sexualverhaltens, das von den Behörden folgende Charakterisierungen erhielt: ‚hemmungslose Triebhaftigkeit‘, ‚sexuelle‘ oder ‚sittliche Verwahrlosung‘, ‚liederlicher‘ oder ‚haltloser Lebenswandel‘, ‚Hang zu Männerbekanntschaften‘ usw. Sehr häufig wurde ihnen Geheimprostitution vorgeworfen, Sexarbeiterinnen galten generell als ‚asozial‘.
Neben dem Sexualverhalten war es die angeblich fehlende Arbeitsmoral, die zur Kategorisierung als ‚asozial‘ führte. Die Frauen wurden dann wegen ‚Arbeitsvertragsbruchs‘, ‚unerlaubten Fernbleibens vom Arbeitsplatz‘ oder ‚Arbeitsbummelei‘, so die Diktion in den behördlichen Dokumenten, verurteilt. Vielfach überschnitten sich in den Begründungen der vermeintlichen ‚Asozialität‘ diese beiden Argumentationsstränge, sodass die Zuschreibung der ‚Verwahrlosung‘ sowohl sittliche wie auch arbeitsmoralische Komponenten aufwies. Derartige Stigmatisierungen konnten bis zur Einweisung in ein Konzentrationslager führen.
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